K. Friis-Jensen u.a (Hgg.): Saxo Grammaticus, Gesta Danorum

Titel
Saxo Grammaticus, Gesta Danorum / Danmarkshistorien.


Herausgeber
Friis-Jensen, Karsten; Zeeberg, Peter
Erschienen
Kopenhagen 2005: GADs Forlag
Anzahl Seiten
2 Bde., 693 + 683 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Rüdiger, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

„Von einem kleinen Rundbogenfenster im Südflügel des Klostergebäudes in Sorø leuchtete in einer sternhellen Herbstnacht des Jahres 1204 eine stille, einsame Lampe durch die halbentblätterte Linde hinaus auf den See. Drinnen, in der hochgewölbten Bischofsstube, saß in einem schwarzen Lederstuhl an einem in der Mauer befestigten Eichentisch ein ehrwürdiger, weißbärtiger alter Mann mit einem großen Pergamentbuch vor sich. Der Tisch war bedeckt mit handgeschriebenen Jahrbüchern und Chroniken, einer Anzahl Abschriften uralter dänischer Lieder und Sagen, Runeninschriften und Zeichnungen von Grabdenkmälern aus heidnischer Zeit. Es lagen dort ebenfalls alte griechische und römische Werke sowie Predigten und Messbücher, die von einer großen, aufgeschlagenen Bibel zum Teil verborgen wurden [...]“

Mit diesen Worten beginnt B. S. Ingemanns historischer Roman ‚Waldemar der Sieger’ 1, mit dem seit seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1826 Generationen von Dän/innen aufgewachsen sind. Der da sitzt und schreibt, umgeben von Flintsteinen und Tonscherben, von Harnischen und Schwertern, der überzeitliche Typos eines mediävistischen Stubengelehrten, ist Saxo Grammaticus bei der Abfassung seiner Gesta Danorum. Kaum eine andere Quelle des lateinischen Mittelalters nimmt eine derart zentrale Rolle in einer europäischen Nationalgeschichte ein und ist so vielen Lesern ein Begriff wie die „Großtaten der Dänen“ oder einfach „Dänengeschichte“, wie der (unsicher überlieferte) Titel dieses sechshundert Druckseiten füllenden Werkes den Zeitläuften gemäß übersetzt worden ist. Kaum ein Werk auch scheint auf den ersten Blick weniger dazu geeignet als dieses zwischen 1180 und 1208 verfasste, sprachlich hochkomplexe Meisterwerk der ‚silbernen Latinität’, das sich ursprünglich an eine winzige europäische Elite richtete – darin ganz unähnlich den fast zeitgleichen großen norwegischen Königssagas, mit denen die Gesta Danorum sowohl den Gegenstand als auch die nationale Popularität teilen. Wer daher eine Neuedition und Neuübersetzung von Saxos Dänengeschichte unternimmt, der befindet sich in einer für mediävistische Textbesorgung äußerst seltenen Position: Beträchtliches Publikums- und Medieninteresse ist bereits der Bearbeitungsphase gesichert; zugleich lastet der Druck einer zweihundertjährigen Tradition auf dem Unternehmen.

Karsten Friis-Jensen, Latinist an der Kopenhagener Universität, arbeitet bereits seit dreißig Jahren über Saxo und ist längst Teil dieser Tradition. Mit seiner Neuausgabe ersetzt er nunmehr die siebzig Jahre alte Edition von Jørgen Olrik und Hans Ræder 2; die begleitende dänische Fassung von Peter Zeeberg ersetzt Jørgen Olriks Übertragung von 1908-12.3 Aber in einer Editionsgeschichte, die selber in solchem Maße Teil der modernen Geschichte ist, wird natürlich nichts „ersetzt“, sondern es wird fortgeschrieben. Friis-Jensens lateinischer und Zeebergs dänischer Text sind der Saxo des beendeten 20. Jahrhunderts: ein intellektueller, internationaler, latinistischer Saxo. Galt doch das Interesse von Fachwelt und Publikum lange Zeit vor allem der in den Gesta enthaltenen Überlieferung alten mythologischen und heroischen Erzählguts – Schätze aus nordischer Frühzeit, die lediglich textkritisch von ihrer mittelalterlich-lateinischen Form befreit und „wiederhergestellt“ werden mussten –, ein Interesse, das auch heute die stoffliche Aufmerksamkeit vor allem auf die ersten acht der 16 Bücher lenkt, in denen der heidnische Teil der Dänengeschichte geschildert wird, während die letzten Bücher der bis in Saxos Gegenwart fortgeführten Geschichte eher die Nordeuropahistoriker/innen interessieren.4 In der Fachforschung richtet sich jedoch spätestens seit den 1970er- Jahren der Blick zum Einen auf Saxos Latinität und den intellektuellen Zusammenhang, zum Anderen auf seine aktuell-politische Aussage, die weit weniger geradlinig ist, als frühere Generationen das Heldenlied für König und Vaterland haben lesen wollen.5 Sprachlich wie gedanklich ist der Saxo der Jahrtausendwende erheblich nuancierter als früher, und Herausgeber wie Übersetzer mussten dem Rechnung tragen.

Beide haben sich ihrer Verantwortung mit Würde entledigt. Friis-Jensen stand dabei vor der für die Edition einer hochmittelalterlichen Historie ungewöhnlichen Situation, nur punktuell mit Manuskripten arbeiten zu können. Der vollständige Text der Gesta Danorum ist nämlich allein in einem Druck von 1514 überliefert, dessen beträchtlicher Erfolg in Humanistenkreisen ihm eine seitdem kontinuierliche Wirkungsgeschichte sicherte. Aus seinen ersten drei Jahrhunderten ist Saxo lediglich in einem Kompendium des 14. Jahrhunderts, einer Reihe indirekter Zeugnisse sowie einigen Handschriftenfragmenten überliefert, unter denen immerhin ein vermutliches Autograf ist.

Friis-Jensen hat sich zur Aufgabe gesetzt, „den Text in einer Gestalt zu etablieren, der Saxos vermutlicher Endredaktion so nah wie möglich kommt“ (S. 10), und berücksichtigt gegenüber früheren Ausgaben, insbesondere Olrik/Ræder, in hohem Maße die indirekte Überlieferung bei spätmittelalterlichen Autoren, darunter den nordischen Geschichtswerken des Rostocker Rektors und hamburgischen Domherrn Albert Krantz.6 Viele der neuen Lesarten begründen sich aber auch in dem in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Verständnis für Saxos ‚silbernes’ Stil-Ideal, weswegen manch getilgtes Ornament des Autors, der bevorzugt Valerius Maximus und Curtius Rufus zitiert (während Horaz und die Bibel selten, Cicero und die Kirchenväter praktisch nie vorkommen), nun wieder akzeptabel ist. Diese Methode bringt auch inhaltlich manchen Gewinn, etwa die Herstellung von rupem Sicaniam anstelle der ovidisch begründeten Emendation lucem sideream, nach welcher in der einleitenden geografischen Beschreibung des Nordens nun der Feuer speiende Berg auf Island nicht mehr wie Sternenlicht, sondern wie der Ätna aussieht (praefatio 2,7,7), oder die bravourös missglückte Einzelkämpferattacke Waldemars I. auf eine Schar sächsischer Ritter, bei der der König nun sein Pferd „herumreißt“ (arrepto equo) statt „anspornt“ (adacto; XIV 8,8,5).

Die Übersetzung – sie ist 2000 bereits vorab, ambitiös illustriert, in drei verschiedenen Ausgaben mit beträchtlichem Erfolg auf dem Buchmarkt erschienen 7 – hat es vielleicht noch schwerer mit der Last der Tradition als der lateinische Text. Bezeichnend sind schon die Titel der Übersetzung von Zeeberg gegenüber Olrik 1908-11: hier schlicht „Danmarkshistorien“, da „Sakses Danesaga“. Zwar wurde Saxo schon 1575 erstmals und dann noch einmal 1752 ins Dänische übertragen. Doch entscheidend sowohl für Saxos Popularität als auch für seine dominierende nordische Lesung – und nicht zuletzt für den demotischen Stil der modernen dänischen Schriftsprache überhaupt – wurde die sprachgewaltige Übersetzung von N. F. S. Grundtvig 8, fast schon eher eine Nachdichtung, in der der Prediger und Debatteur seinem Volk den Saxo geben wollte, den es seiner Meinung nach im neuen nationalen Jahrhundert brauchte. Es war, betrachtet man den selbsterfüllenden Charakter von Grundtvig-Saxos rückwärts gekehrter Prophetie insbesondere beim ewigen Grenzkampf zwischen tapferen Dänen und verschlagenen Deutschen, der ‚richtige’. Noch Olriks Übersetzung steht im Zeichen dieses Kulturskandinavismus; die Prosa ist reich an altertümelnden, aus frühneuzeitlichen Volksbüchern entnommenem Vokabular, und die kunstvollen lateinischen Verse (Friis-Jensen zählt 24 verschiedene Metra), auf ihre vermeintlichen skaldischen oder eddischen Urformen ‚zurückgeführt’, werden immer noch und immer wieder neu gedruckt und sogar von der Königin illustriert.9

„In dieser Hinsicht hat die Sicht von Saxos Werk sich wesentlich geändert“, kommentiert Zeeberg und zielt daher auf einen leicht lesbaren modernen Text ohne Pastiche ab, der aber zugleich einen gewissen zeitlosen Mittelton anschlagen müsse (S. 34f.). Mit anderen Worten, er verzichtet – sicher zu Recht – darauf, nunmehr Saxos Latinität in ihrer exkludierenden Wirkung nachzuahmen. Seine stilistische Meisterleistung ist es, in einem dänischen sermo simplex dennoch durchweg Saxos rhetorische Wirkmittel, allen voran die häufigen Parallelismen und Oppositionen, in den Sprachfluss einzulassen. Herausgekommen ist ein eleganter und, ungeachtet seltener diskutabler Punkte, zuverlässiger Text – der auf seine Art für das Dänemark des 21. Jahrhunderts sein will, was Grundtvigs für das 19. war.

Erwähnt werden sollte die in Bindung, Papier und Type noble Ausstattung, die wie auch der relativ niedrige Preis in hohem Maß der Langzeitförderung durch den vor kurzem durch die dänische Rechtsregierung abgeschafften Staatlichen Humanistischen Forschungsrat zu danken ist. Es handelt sich hier, das muss auch gesagt sein, um eine reine Textausgabe. Sie bietet ein gutes Namenregister, ein Verzeichnis der Versmaße und ein exzellentes Register über Parallelstellen, aber keinen inhaltlichen Kommentar. Für diesen bleibt es bei den reich annotierten englischen Übersetzungen von Fisher/Davidson und Christiansen – die Zeit der Synthesen der neueren Saxo-Forschung hat gerade erst begonnen.10 Mit dem neuen Friis-Jensen/Zeeberg steht dafür eine Edition bereit, die voraussichtlich für Jahrzehnte maßgeblich bleiben wird, und eine Übersetzung, die es bereits ist.

Anmerkungen:
1 Ingemann, Bernhard Severin, Valdemar Sejer, Kopenhagen 1826; hier übersetzt nach der 16. Aufl. 1894, S. 3.
2 Olrik, Jørgen; Ræder, Hans (Hgg.), Saxonis Gesta Danorum, Bd. 1: Textus, Kopenhagen 1931; zugänglich unter www.kb.dk/elib/lit/dan/saxo/lat/or.dsr .
3 Olrik, Jørgen, Sakses Danesaga, 4 Lieferungen, Kobenhagen 1908-12.
4 Vgl. Hermann, Paul, Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus, Teil I: Übersetzung, Leipzig 1901; Hans-Günter Hube, Saxo Grammaticus. Gesta Danorum, Wiesbaden 2004; Fisher, Peter; Ellis Davidson, Hilda (Hgg.), Saxo Grammaticus. The History of the Danes. Books I-IX, 2 Bde., Cambridge 1979-80 (ND 1996). Während letztere Ausgabe weit verbreitet ist, erschien die Fortsetzung in kleiner Stückzahl und mit schlichtesten typografischen Methoden: Christiansen, Eric (Hg.), Saxo Grammaticus. Danorum regum heroumque historia. Books X–XVI, 3 Bde., Oxford 1980-81.
5 Zu den wichtigsten Beiträgen zählen: Johannesson, Kurt, Saxo Grammaticus. Komposition och världsbild i Gesta Danorum, Uppsala 1978; Friis-Jensen, Karsten (Hg.), Saxo Grammaticus. A Medieval Author between Norse and Latin Culture, Kopenhagen 1981; Sawyer, Birgit, Valdemar, Absalon and Saxo: Historiography and Politics in Medieval Denmark, in: Revue belge de philologie et d’histoire 63 (1985), S. 685-705; Skovgaard-Petersen, Inge, Da Tidernes Herre var nær. Studier i Saxos historiesyn, Kopenhagen 1987; Santini, Carlo (Hg.), Saxo Grammaticus tra storiografia e letteratura, Rom 1992; Lund, Niels (Hg.), Viking og Hvidekrist, Kopenhagen 2000; Nyberg, Tore (Hg.): Saxo and the Baltic Region, Odense 2004.
6 Krantz, Albert, Wandalia, Köln 1519; Ders., Saxonia, Köln 1520; Ders., Chronica Regnorum Aquilonarium, Daniae, Suetiae, Noruagiae, Straßburg 1546.
7 Zeeberg, Peter (Übs.), Saxos Danmarkshistorie, illustriert von Maja Lisa Engelhardt, Kopenhagen 2000 (Ausgaben in verschiedenen Ausstattungen).
8 Saxo Grammaticus. Danmarks Riges Krønike, fordansket ved Nik[olai] Fred[erik] Sev[erin] Grundtvig, Kopenhagen 1818–22; teilweise zugänglich unter <http: www.runeberg.org/saxo>.
9 Die Neuausgabe des von Axel Olrik in nordischem Versmaß übersetzten ‚Bjarkemaal’ (erstmals 1884), Kopenhagen 1982, enthält Illustrationen von Ingahild Grathmer, einem durchsichtigen Pseudonym Margrethes II.
10 Vgl. Anm. 4 und: Riis, Thomas, Einführung in die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, Odense 2006.

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